Wo bleibt eigentlich die Rezession?

Verehrter Mitdenker,

seit Herbst 2022 weisen zwei der meistbeachteten volkswirtschaftlichen Indikatoren auf eine anstehende tiefe Rezession in den USA hin, natürlich mit entsprechend negativen Folgen für die Weltwirtschaft und globalen Kapitalmärkte. Insbesondere einer der beiden weist hierbei seit Jahrzehnten eine lupenreine Trefferquote von 100 % auf. Wie das mit volkwirtschaftlichen Kennzahlen so ist, eignen sie sich zwar nur selten für ein präzises Timing von Rezessionen und Aktienbaissen. Doch nach einer typischen Zeitspanne von spätestens 1 ½ Jahren muss man mit beidem eigentlich rechnen. Dabei nimmt die Börse es normalerweise vorweg, bevor die Realwirtschaft dann zeitversetzt ins Rutschen gerät. Mittlerweile sind aber über 18 Monate rum. Die meisten Aktienmärkte liegen auf Allzeithochs und gerade die US-Wirtschaft erscheint trotz unverändert hoher Leitzinsen relativ robust. Kommt das dicke Ende noch?

Zu den treffsichersten Indikatoren einer kommenden Rezession zählt schon seit Jahrzehnten die Zinskurve eines Landes. Die einfache Regel: Wenn die kurzfristigen Zinsen die langfristigen übersteigen, die Zinskurve invers wird, dann steht absehbar eine Rezession innerhalb der nächsten 18 Monate an. Und die Börse nimmt dies in aller Regel mit einer mehr oder weniger deutlichen Baisse vorweg.

Realer Hintergrund dieser Regel ist zum einen eine restriktive Notenbank, die die Leitzinsen am kurzen Laufzeitende zur Wirtschafts- oder Inflationsabkühlung anhebt. Zum anderen führt Spekulation auf eine Wirtschaftsflaute am langen Ende zu erhöhter Nachfrage nach sichereren Anleihen, was die Zinsen dort drückt. Dies kann man im Übrigen nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und vielen anderen Kapitalmärkten so beobachten.

In Chart 1 dargestellt ist nun die Zinsdifferenz zwischen zehn- und zweijährigen US-Staatsanleihen. Immer wenn diese Differenz negativ wird (unter der roten Linie), zieht früher oder später eine Rezession (schraffierte Balken) in der US-Wirtschaft auf. Das Prägnante: Noch nie war eine inverse Zinskurve so tief und lang ausgeprägt wie aktuell, seit Herbst 2022.

Chart 1: Anhaltend inverse US-Zinskurve
Quelle: Eigene Erstellung, Federal Reserve of St. Louis; Zeitraum 1982 - 2024
Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für zukünftige Wertentwicklungen

Steht die Rezession vor der Tür?

Bevor ich zu einer Wertung in dieser Frage komme, lassen Sie uns noch einen Blick auf den zweiten Indikator werfen, der augenscheinlich ebenfalls zur Vorsicht mahnt: Die Veränderung der US-Geldmenge M2, also die breite Liquiditätsversorgung von US-Wirtschaft und Börsen.

In Chart 2 erkennt man hierzu mehrerlei. Zum einen hat sich das US-Geldmengen­wachstum schon immer um einen Mittelwert von 7 % zwischen 0 und 13 % jährlich bewegt. Das Bild zeigt im Kern eine vitale Volkswirtschaft, deren Wachstum sich schon immer auch aus einer kräftigen Liquiditätsschaffung speiste. Auffällig am rechten Rand ist natürlich die rapide Geldmengenausweitung angesichts der Coronakrise sowie der nachfolgend genauso harsch ausfallende Rücksturz bis in den negativen Bereich.

Chart 2: US-Geldmengenveränderungsrate
Quelle: Eigene Erstellung, Federal Reserve of St. Louis; Zeitraum 1962 - 2024
Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für zukünftige Wertentwicklungen

Und gerade Letzteres wird von liquiditätsorientierten Börsenanalysten als kritisch gesehen: Den Börsen geht das Geld aus.

Richtig ist, dass die Fed und andere große Notenbanken inflationsbestimmt immer (noch) restriktiv agieren und ihre Bilanzsummen verkleinern. Doch von einer wirklich harten Liquiditätsreduktion ist auch die Fed noch weit weg. Dies zeigt die Entwicklung der absoluten Geldmenge M2:

Chart 3: US-Geldmenge M2 in Mrd. US$
Quelle: Eigene Erstellung, Federal Reserve of St. Louis; Zeitraum 1962 - 2024
Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für zukünftige Wertentwicklungen

Ja, die Geldmenge geht zurück, allerdings liegt sie selbst unter Berücksichtigung des realen Wirtschaftswachstums immer noch um 25 % über dem Stand unmittelbar vor Corona (rot gestrichelte Linie). Daher sollte man den harten Absturz der Geldmengen­veränderungsrate aus Chart 2 nicht überinterpretieren. Ohnehin spielt hier auch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in die etwas statische Betrachtung der Geldmenge hinein. Und diese hat sich seit Corona schon wieder um 21 % erhöht.

Was lässt sich aus all diesen Aspekten nun zur Ausgangsfrage ableiten? Kommt die Rezession mit Verspätung oder funktionieren die Indikatoren nicht mehr? Einerseits muss man mit der Interpretation volkswirtschaftlicher Daten nach den massiven Coronaverzer­rungen immer noch vorsichtig sein. Andererseits lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer kommenden Rezession nicht bei Null ansetzen. Statistisch kommt irgendwann ohnehin der nächste Einbruch. Ich selbst gehe aber zurzeit nicht davon aus und erwarte gerade für Europa und Deutschland eher ein Revival (siehe letzter BQ).

Die Notenbanken werden ihre Liquiditätsschübe aus der Coronazeit nicht auf Null zurückfahren (können). Hier gilt es zwar noch den Kipppunkt zu finden. Den werden uns die Märkte aber schon signalisieren. Kritischer bleibe ich jedoch wie seit Jahren bei dem Thema Inflation. Zunehmender Protektionismus und die Finanzierung von Klimawende, KI-Infrastruktur und Verteidigung dürften zu einem grundsätzlich höheren Inflationsniveau führen. Aktien und Rohstoffe werden in diesem Szenario die Hauptprofiteure sein.

Always expect the unexpected!

Ihr Mathias Werner