Wie man gierig 100 % seines Geldes verlieren kann

Verehrter Mitdenker,

die Geldanlage in Aktien ist zurecht eine der langfristig sinnvollsten Möglichkeiten, die man als Anleger hat. Etliche Untersuchungen belegen, dass man mit einem Zeithorizont von ca. 15 Jahren Anlagedauer in der Regel nichts verkehrt machen kann bzw. kein Geld verliert, selbst wenn es zwischenzeitlich zu scharfen Baissen kommt. Das Paradebeispiel hierfür erleben viele Anleger immer wieder mit Aktien aus dem Technologiebereich. Die teilweise fabelhaften Kursgewinne von Nvidia & Co. haben mit temporär heftigen Kursverlusten von über 50 % zwar ihren Preis, halten aber eine zunehmende Anzahl sportiver oder gieriger Anleger nicht davon ab, weiter zuzulangen. Nicht wenige setzen hierbei zunehmend auf nur einige wenige Highflyer und potenzieren dies noch mit hochspekulativen Derivaten wie z.B. Kaufoptionen. Was kann da schon schiefgehen? Ein gut dokumentiertes Anlagebeispiel und eine bedenkenswerte Analyse geben hierauf eine interessante Antwort.

Anfang Oktober machte in den USA ein Anleger mit einer Klage gegen seinen Anlageberater Schlagzeilen, in der er diesen für den Totalverlust seines Anlagevermögens verantwortlich machte. Nachdem er über einen längeren Zeitraum mit Optionen auf die Aktien seines Lieblingsunternehmens (Spoiler: Ein prominenter E-Autohersteller) sein Vermögen von knapp 90.000 US-Dollar auf sagenhafte 415 Millionen US-Dollar verzigfacht hatte, gab er an, wegen fehlender Beratung dieses Geld wieder komplett verloren zu haben.

Was genau war passiert?

Eine Geschichte der Extreme, von fabelhaftem Erfolg und unglaublichem Versagen, diesen festhalten zu können. Oder schlichtweg ein Lehrstück über Gier.

Der meteorhafte Vermögensanstieg startete 2020 nach den billionenschweren Corona-Staatseingriffen in einer Phase, in der die Aktie selbst schon über 1700 % stieg. Das Ganze gehebelt mit Optionen machte den Riesengewinn des Anlegers möglich. Der Rutsch kam dann mit dem Dreh des Marktes nach Start der Zinsanhebungen durch die Notenbanken. Ein massiv fallender Aktienkurs, Nachschusspflichten und Zwangsverkäufe aus den Optionsgeschäften zertrümmerten das Vermögen innerhalb eines guten Jahres.

Ohne den Fall jetzt im Detail zu kennen, bin ich mir sicher, dass es zuvor diverse Hinweise seines Anlageberaters gegeben hat, doch zumindest einen Teil seines gigantischen Vermögenszuwachses in hochverzinsliche Staatspapiere oder Ähnliches zu tauschen. Alleine, Gier frisst Hirn. Man kann sich eine Art Allmachtsgefühl bei dem Anleger gut vorstellen.

Ich selbst erinnere mich an eine private Begegnung auf einer Party mit einem Anleger in der Hochzeit der Internet-Blase Anfang 2000. Dort schwärmte mir dieser von seiner Fähigkeit vor, am Neuen Markt aus 30.000 Euro innerhalb von wenigen Jahren ein Vermögen von über 3 Millionen mit EM.TV-Aktien angehäuft zu haben. Ich beglückwünschte ihn, fragte auch, was er damit jetzt anfangen würde, ob er nicht zumindest einen größeren Teil davon in sichere Anleihen tauschen wolle. Bei 5 % Zinsen damals kein schlechter Tausch.

Doch ich erinnere mich noch gut an seine Antwort: „Nein, ich glaube an die Haffa-Brüder! (Gründer und Vorstände damals) Das geht noch viel höher!“

Drei Jahre später, nach dem Zusammenbruch des neuen Marktes, traf ich ihn zufällig wieder und war natürlich neugierig, wie es ihm ergangen war. Er erkannte mich auch und erzählte mit deutlich gedämpfterer Stimme, dass er sein Vermögen mit Platzen der (EM.TV-) Blase komplett verloren hätte. Bis zuletzt hatte er an einen Turnaround des Unternehmens geglaubt. Nur eines hatte er 2000 richtig gemacht, sich nämlich einen neuen Mercedes von seinem Millionenvermögen zu kaufen. Immerhin.

Die Lehren aus diesen Fällen sind natürlich offensichtlich: Unkontrollierte Gier und ein Mangel an Risikomanagement sind häufig die Basis für finanziellen Ruin.

Als Anhänger der Behavioral Finance fallen hier etliche anlegerpsychologische Effekte auf. Wie z.B. die sogenannte FOMO - fear of missing out -, also die Angst, etwas zu verpassen. Oder Over-Confidence, ein mit jedem Gewinn weiter steigendes irrationales Vertrauen in die eigene Überlegenheit. Oder die irrationale Angst, bei Verkauf auf die entstandenen Gewinne hohe Steuern zahlen zu müssen.

Es gibt aber auch noch einen anderen wissenschaftlich gut untersuchten Grund, solche einzeltitelbasierten Strategien zu meiden. Angesichts der eingangs erwähnten und mittlerweile weithin verstandenen langfristigen Vorzüge von Aktienanlagen unterschätzen selbst Experten eine ganz besondere Tatsache, die langfristig auf Aktien zutrifft. Aber schätzen Sie selbst:

In einer Studie in den USA wurden fast 30.000 US-Aktien im Zeitraum von 1926 bis 2023 (plus global weitere 60.000) darauf untersucht, wieviel Wertzuwachs sie ihren Aktionären in diesem Zeitraum erwirtschaftet haben. Was schätzen Sie, welcher Wertzuwachs dieser insgesamt 90.000 Aktien der am häufigsten erreichte Wert war?

Wenn Sie jetzt so an ca. + 10 % im Durchschnitt pro Jahr denken, weil dies grob der langjährigen Performance von US-Aktien entspricht, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Der mit Abstand am häufigsten eingetretene Wertzuwachs von Aktien in diesem mehr als 90 Jahre langen Untersuchungszeitraum lag bei: - 100 %.

Mit anderen Worten: Der wahrscheinlichste Wertverlauf einer Aktie liegt über kurz oder lang bei Totalverlust!

Dieser Tatsache sollte man sich bewusst sein, wenn man in nur wenigen Aktien unterwegs ist, weil man meint, sie gut zu kennen und besser prognostizieren zu können. Risikomanagement und Diversifikation über mehrere Fonds, gut durchmischt mit passiven (ETFs) und aktiv gemanagten, sind der verlässlichere Weg zu langfristigem Vermögensaufbau.

In diesem Sinne,
Always expect the unexpected!

Ihr Mathias Werner