Das Ende der Fantasie
Verehrter Mitdenker,
das Thema künstliche Intelligenz dringt immer stärker in unsere Lebenswirklichkeit vor. Ob man über seine Jobsicherheit diskutiert, sinnvolle Anwendungsbereiche sucht oder sich KI-Zukunftsfantasien hingibt: Das Veränderungspotenzial für unsere Gesellschaft ist erheblich. Dies gilt grundsätzlich auch für die Börse, die diesen stark disruptiven Faktor ökonomisch zu greifen und bepreisen versucht. Und das - wie immer bei Aufkommen eines neuen Megatrends - in typischen Schritten: Von ersten Investments mutiger und weitsichtiger Investoren bis hin zu einem breiten Kursanstieg, der schließlich in Fantasie
-Kurse mündet... um dann über Realitätschecks geerdet zu werden und in eine Phase der nachhaltig positiven Wertentwicklung zu wechseln. So geschehen z.B. beim Aufkommen des Internets ab den 90er Jahren. Wo stehen wir beim Thema KI heute? Einige Kursbewegungen im Technologiebereich erinnern schon wieder an Fantasiekurse. Die weit überwiegende Masse normaler
Aktien partizipiert hingegen so gut wie gar nicht an dieser Entwicklung. Eine Schieflage zum Aufhorchen.
Wenn Analysten von der wichtigsten Aktie auf diesem Planeten
reden, der Konzernchef dieses Unternehmens selbst die Neuerschaffung des Internets proklamiert und das dahinterstehende Unternehmen spektakuläre Umsatz- und Gewinnsprünge (Verelffachung) berichtet, dann wird man natürlich hellhörig. Wenn dann noch DAS bekannteste KI-Unternehmen schlechthin revolutionäre Videoclips aus simplen Textbausteinen präsentiert und zu Investitionen in die weltweite IT-Infrastruktur von über 7 Billionen EUR aufruft, um KI global auszurollen, dann zeugt dies doch von einem gewissen Gigantismus. Oder von gesundem Sendungsbewusstsein der dahinterstehenden Unternehmen bzw. Führung. Oder beides. Also: Fakt oder Fantasie?
Um es gleich deutlich zu machen: Ich erwarte hier tatsächlich umwälzende Entwicklungen, die auch an der Börse über den Tag hinaus sichtbar sein werden. Überwiegend positiv, aber auch negativ. Die Börse wird Gewinner und Verlierer sortieren. Dies dürfte wie damals rund um das Internet ein steiniger, aber langfristig aufwärts gerichteter Pfad werden. Da Vieles in seinen Auswirkungen noch nicht bekannt oder erahnt werden dürfte, besteht hier viel Raum für kurstreibende Fantasien und kursdrückende Realitätschecks. Wo stehen wir aktuell?
Die erkennbare Zuspitzung der jüngsten Kursanstiege auf einige wenige Technologieaktien bei fast kompletter Ignoranz nicht-technologischer Aktien (auch in Europa!) ist grundsätzlich ein Warnzeichen.
Ein guter Indikator hierfür ist die laufende Renditedifferenz zwischen Technologie- und Dividendenaktien, wie sie in Chart 1 (unterhalb des (blauen) Kursverlaufs des europäischen Aktienmarktes) dargestellt ist. Hierzu wird die laufende 6-Monatsrendite europäischer Dividendenaktien von der von Technologietiteln abgezogen. Die Differenz schwankt stark um 0 % und verdeutlicht, dass mal Tech- (>0 %), mal Dividendenwerte (<0 %) besser laufen.
Dies macht langfristig nicht nur eine Kombination beider Aktienkategorien äußerst sinnvoll, es zeigt zwischenzeitlich auch Übertreibungen in die eine oder andere Richtung an. Und diese ziehen immer wieder Gegenbewegungen nach sich - bis ins entgegengesetzte Extrem.
Und jetzt zur aktuellen Bewertung: Es ist deutlich zu erkennen, dass Technologieaktien gegenüber Dividendenwerten mittlerweile wieder ihr langjähriges Höchstniveau erreicht haben (roter Pfeil). Und dies auch stark getrieben durch nur wenige große Titel - bei weiter fortschreitender Verengung. Nur zur Erinnerung: Schon 2023 haben die Mag7
in den USA alleine den Großteil der gesamten S&P 500-Performance geliefert. Zuletzt reduzierte sich auch das schon nur noch auf die vier KI-intensivsten Fab Four
.
Erstes Fazit: Während man strategisch gut auf die Technologie-Dividenden-Kombination setzen sollte, sind Tech-Titel markttechnisch gesehen ab jetzt kein Zukauf mehr - aber Dividendenaktien! Auch wenn das präzise Timing im Sinne eines guten Handelsmodells hier nicht abgeleitet werden kann, bieten sich als mögliche Wendepunkte Richtung Dividende der große Märzverfallstermin, der stärkere Einstieg in die Dividendensaison oder die negative Saisonalität ab Sommer an. Auslöser könnte eine weiterhin zu zögerliche Zinssenkungspolitik der Notenbanken über den Sommer hinweg sein. Technologieaktien sind für wieder anziehende Inflationsraten und Zinsen jedenfalls nicht gepreist.
Zweites Fazit: Die positive Renditewende hin zu Dividendenaktien dürfte auf einem Nachzüglereffekt bei diesen und/oder der technischen Korrektur der übertriebenen Kurssprünge im (zugespitzten) Technologiesegment beruhen.
So sind im Mauerschatten der dominierenden KI-Fantasie zuletzt einige Positivfakten auf der Dividendenseite weitgehend ignoriert worden. Hierzu zählen deutliche Dividendenerhöhungen bei vielen Unternehmen, die sich auch aus höheren Gewinnen speisen, sowie die Tatsache, dass immer mehr AGs (Vorbild USA!) eigene Aktienrückkaufprogramme ankündigen.
Die erwartete Korrektur im Tech-Bereich sollte auf dieses Segment begrenzt bleiben. Es spricht einiges dafür, dass in diesem Fall Dividendenaktien eher verschont bis nur unterdurchschnittlich tangiert werden.
Abschließend sollte man im Hinterkopf behalten, dass auch Dividendenaktien wie vermutlich viele Unternehmen, die sich ernsthaft der KI-Thematik annehmen, in Zukunft erheblich von deren Nutzung profitieren dürften. Dies wäre die zweite oder dritte KI-Welle - der Anwender. Schätzungen gehen hier von 2-3 % p.a. höheren Gewinnmargen bei entsprechenden Unternehmen aus. Bei finanzmathematischer Abdiskontierung dieses Faktors über 15-20 Jahre sind so rechnerisch zusätzliche Kursgewinne von 40-60 % zu rechtfertigen. Ein strukturell positiver Faktor für Aktien in den nächsten Jahren!
In diesem Sinne,
always expect the unexpected!
Ihr Mathias Werner